Ein Jahrhundertzeuge, geboren am 10. Dezember 1921
Georg Stefan Troller ist Reiseschriftsteller, Menschenkenner, Interview-Ass, Dokumentarfilmer, Drehbuchautor, Gedächtniskünstler und Geschichtenerzähler. All diese Berufe und Berufungen haben ihn um die halbe – ach was – die ganze Welt geführt. Über viele Städte kann er Ungewöhnliches berichten: über seine Geburtsstadt Wien, deren Sprachmelodie er nie verlernt hat, über Paris, wo er seit den 1960er Jahren kontinuierlich lebt, über München, wo er zum Kriegsende 1945 als US-Soldat und Befreier einrückte und wohin ihn später der Weg wegen der Arbeit für den Bayerischen Rundfunk immer wieder führte.
Seit rund zwanzig Jahren verbindet Troller auch eine stete Beziehung zum Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde. Ob er in der Pasinger Fabrik, im Gasteig, im Gartenhaus am Prinzregentenplatz oder im neuen Jüdischen Gemeindezentrum auftrat, stets war für Auftritte in München das Kulturzentrum ein treuer Partner für ihn.
Reiseerprobt war Troller für Lesetouren jahrzehntelang und oft tagelang unterwegs, Abend für Abend in einer anderen Stadt auf der Bühne, hatte die Ausdauer ausdauernd für seine begeisterten Zuhörer zu signieren und genoss die Gespräche beim späten geselligen Beisammensein ohne müde zu werden, weil seine Neugier auf Menschen aufrichtig und unbegrenzt ist und gleichzeitig eine geheime Energiequelle, die unerschöpflich funktioniert, auch noch seit er die Neunzig längst überschritten hat.
Lesungen begannen in den letzten Jahren stets mit demselben Zeremoniell, dem Aufbau seiner eigenen Leselampe und einem aus Karton gebildeten Schirm, der das Licht präzise auf das aufgeschlagene Buch fokussiert. Irgendwann kam – allerdings nur fürs Lesen – eine Augenklappe hinzu, was er trocken kommentierte: „Jeder sein eigener Pirat.“ Und wenn Troller dann mit seiner gutturalen Stimme zu lesen begann, vergaß man ganz schnell, dass er auf dem Weg zu den bald Hundertjährigen war.
Seine Frau Kirsten lernte ich erst bei seinem vorletzten Auftritt kennen. Zum vorläufig letzten Auftritt 2019 im Jüdischen Gemeindezentrum musste Troller wieder alleine anreisen, nachdem die gebürtige Hamburgerin unerwartet 2018 verstorben war. Wie es weiter geht, weiß man nicht. Denn aus seinem schier unerschöpflichen Reservoir hat er jedes Jahr ein neues Buch zusammenstellen können, seine Geschichten ergänzt und verfeinert und dann stets gerne „unter die Leut“ gebracht.
Heute feiert Georg Stefan Troller seinen 99. Geburtstag und ich hoffe, er kann diesen Tag mit seiner Tochter genießen. Ich vermute mal, dass die Corona-Pandemie ihn nicht schrecken kann, zu viel Schreckliches hat er in seinem langen Leben schon gesehen und ertragen müssen. Schon die Kindheit in Wien, „Das fidele Grab an der Donau“, hatte es in sich. Doch zumindest rettete er sich fort aus Europa. Seine Textsammlung „Mit meiner Schreibmaschine – Geschichten und Begegnungen“ führt in seine Emigrationszeit in New York, wo Troller eine Unterkunft an der 75th/ Amsterdam Street fand, im so genannten „Vierten Reich“. So wurde der Stadtteil genannt, in dem vor allem Flüchtlinge unterkmen, die vor den Nationalsozialisten geflohen waren. In über 200 Häuserblocks wurde „Emigranto“ gesprochen, so Troller, und fuhr fort: „Alles hat uns Hitler nehmen können, nur nicht unseren deutschen Akzent.“
Georg Stefan Troller liebt seine vor weit über einem halbe Jahrhundert auserkorene Wahlheimat Paris, erzählt gerne, wie diese Stadt wirklich ist, was er in „Paris geheim“ auch zwischen zwei Buchdeckel gebracht hat und wo auch zur Sprache kommt, was aus dem einstigen jüdischen Vierter Le Marais wurde, nämlich eine „It-Gegend“.
Übrigens mag er selbst nicht gerne befragt werden, hat aber in einem Interview mal eingeräumt, was ihn seit jeher umtreibt: „Wie lebt man so, dass man sich selbst und sein Leben billigen kann.“
Troller war über ein halbes Jahrhundert lang selbst einer der erfolgreichsten „Menschenfischer“. Er kennt alle Tricks beziehungsweise hat sie selbst erfunden, um andere zum Sprechen zu bringen. 2004 drehte er seinen letzten Film, „Tage und Nächte in Paris“. So gut wie jedes Jahr veröffentlicht er ein Buch, basierend auf Material aus seinem unerschöpflichen Fundus. 2017 erschien „Ein Traum von Paris“, eine Sammlung früher Texte und Fotos, die er in den 50er Jahren geschossen und nach der Scheidung von seiner ersten Frau für entsorgt gehalten hatte. Waren sie aber nicht.
Zuletzt, 2019, veröffentlichte er „Liebe, Lust & Abenteuer“, 97 Begegnungen mit „VIPs“ und unbekannten Originalen von A bis Z Troller wählte aus, was ihm zum Thema Eros von Liebe bis Sexualität anvertraut wurde. Er stellte es im Rahmen der Jüdischen Kulturtage am Jakobsplatz am 6. Oktober 2019 im Hubert-Burda-Saal vor. Bei dieser Gelegenheit entlockte der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Langenbucher dem Autor, den er für die Israelitische Kultusgemeinde schon einmal, nämlich 2005, befragt hatte, aktuelle Bonmots. So begann Langenbucher mit der unerwarteten Feststellung, Troller sei für ihn ein „Pionier der Herrenmode“. Noch nie habe er ihn mit Krawatte gesehen, stets aber mit einem Schal. Darauf erwiderte Troller, die Farbe des Schals hänge von der Stimmung ab. Für das Münchner Publikum habe er dieses Mal silbrig gewählt, er erwarte nur das Beste. Sein Onkel habe ihm einst regelmäßig Krawatten geschenkt, getragen habe er sie nie.
Angesprochen auf seine frühen München-Erfahrungen – immerhin hatte er als amerikanischer Soldat am 1. Mai 1945 an der Befreiung Münchens teilgenommen – erzählte Troller anschaulich, als sei es am Vortag gewesen, von seinen journalistischen Anfängen bei der „Neuen Zeitung“ von Hans Habe und im Bayerischen Rundfunk. Am Schwarzen Brett habe ein Zettel mit der Aufschrift „Ihr Juden seid schuld am Krieg“ gehangen. „1945 war das ganz allgemein die Meinung“, resümierte Troller seine bedrückende Erinnerung und fügte hinzu: „Die Umerziehung zog sich über Jahre hinweg. Ein Aufruf von ihm im Rundfunk habe der Frauenkirche das Leben gerettet. Der eine Turm sei undicht gewesen, Troller rief zu Spenden auf. Sprach’s und griff nach seinem Buch „Unterwegs auf vielen Straßen“, um über die Ankunft in München Ende April 1945 und seine Eindrücke in Dachau vorzulesen. Was er dort sah, „halbnackte Skelette“. Was er dachte: „Es sind meine Leut’.“
Übrigens, die neuen Kommunikationswege des World-Wide-Web hat der ewige Journalist Georg Stefan Troller natürlich registriert. Nur verweigert er sich ihnen konsequent. Per Email oder SMS wird man ihn nie erreichen. Doch Henryk M. Broder hat‘s einmal verraten im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Buches „Wohin und zurück. Die Trilogie. Drehbuch zur gleichnamigen Filmtrilogie“. Bei Broder erfährt man: „Wer gerne Drehbücher liest, wird für diese Veröffentlichung dankbar sein, wer eines schreiben möchte, erfährt hier, wie man es macht, und wer es signiert haben möchte, der findet Georg Stefan Troller im Cafe Deux Magots am Place Saint-Germain-des Prés in Paris.“
Massel tow – ad mea-we-esrim, bis 120!
Ellen Presser
Foto: Marina Maisel