Ruth Klügers lebenslanger Kampf ist zu Ende. Die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin verstarb am 6. Oktober 2020 im Alter von 88 Jahren. Ihr erster Kampf war der härteste, denn da ging es ums nackte Überleben – im wörtlichen und im übertragenen Sinne, wie sie im ersten Teil ihrer Autobiographie »weiterleben. Eine Jugend« ausführte. Sieerschien 1992 im Wallstein Verlag in Göttingen, wo sie ab 1988 lange eine Gastprofessur an der Georg-August-Universität inne hatte.
Damals lernten wir uns kennen. Genauer gesagt am 11. November 1992, dem Abend, an dem sie im Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde in der Prinzregentenstraße ihr Buch vorstellte. Den Termin hatten die Buchhändlerin Christiane Rostock, die damals die Buchhandlung am Elisabethplatz führte, und ich für unser Gemeinschaftsprojekt wohlüberlegt ausgewählt.
Wir wollten das Werk einer damals hierzulande so gut wie unbekannten Autorin vorstellen. Es war hervorragend geschrieben, kein reiner Tatsachenbericht, sondern die Ereignisse wie auch die Erinnerungen reflektierend. Es ging also nicht nur darum, was einer Wiener Jüdin nach dem Anschluss Österreichs und der Deportation widerfahren war, sondern eine Auseinandersetzung damit, was solche Erlebnisse mit einem Menschen machen, wer – außer einer Handvoll Interessierter – würde sich darauf einlassen?
Die Terminfindung ganz nahe am Gedenktag der so genannten Kristallnacht konnte helfen, dachten wir.
Doch es kam anders und viel, viel besser. Kurz vor der Veranstaltung landete Ruth KlügersMemoir auf der Bücher-Bestenliste der Süddeutschen Zeitung. Wir hatten volles Haus im Untergeschoß unseres Gartenhauses am Prinzregentenplatz, und verloren uns nie mehr aus den Augen. Spätestens seit einer begeisterten Besprechung von Marcel Reich-Ranicki, der Schoah-Literatur bis dahin nichts abgewinnen konnte, und ihrer Einladung ins »Literarischen Quartett« als Literaturkritikerin, und ganz offensichtlich hochgeschätzt vom Gastgeber MRR,nahm ihre Bekanntheit Fahrt auf.
Es folgten Bücher wie »Frauen lesen anders«, das ihren feministischen Ansatz widerspiegelte, »Katastrophen. Über deutsche Literatur« und »Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur« und ein weiteres Memoir, »unterwegs verloren. Erinnerungen« über ihre Erfahrungen als Studentin und später Professorin in Princeton und Irvine sowie als alleinerziehende Mutter zweier Söhne und ihr Ringen mit der eigenen Mutter, die gemeinsam mit ihr überlebt hatte und 1947 in die Vereinigten Staaten ausgewandert war.
Ruth Klüger galt als streitbar und widerspenstig, nahm die späten Ehrungen, deren es zwischen 1993 und 2016 viele geben sollte – auch aus ihrer alten Heimat Österreich, die sie als Kind gewaltsam Richtung Theresienstadt und andere Konzentrationslager verlassen musste, an. Wohl wissend, dass dies alles ihre erste große Lebenswunde nie heilen könnte – nämlich die zeitlange Verbannung in den für die meisten, wie auch ihren Vater und Bruder, tödlichen KZ-Kosmos. Dass das seinerzeit sture Reglement des Geschwister-Scholl-Preises ihr diese Auszeichnung versagte, vergaß sie nie. Die letzte Auszeichnung in München fand 2016 im Künstlerhaus statt, wo sie beim Bayerischen Buchpreis als Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer einen Porzellanlöwen erhielt. Und mit ihrem Wiener Charme den zerbrechlichen Staubfänger zur Heiterkeit des Publikums mit den Worten annahm, so ein hübsches »Katzerl«. Denn Humor hatte sie, neben intellektueller Schärfe und Unerbittlichkeit im Urteil über die Verbrecher und Verleugner der Schoah.
Wie tröstlich Poesie sein kann – Gedichte am Appellplatz zu memorieren, hatte ihr geholfen mental zu überleben – daran ließ sie viele teilhaben mit ihren Gedichtinterpretationen in der »Frankfurter Anthologie« der FAZ und Werken wie »Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik«, »Zerreißproben. Kommentierte Gedichte« und »Gegenwind. Gedichte und Interpretationen«. Mit dieser Lektüre hat sie mir ein Fenster zu einer fremden Welt geöffnet (das in meiner Schulzeit im Deutschunterricht regelrecht zugenagelt worden war).
Sie las leidenschaftlich gerne Kriminalromane, trug sich mit Ideen für einen Spannungsroman, zu dem sie Eindrücke von ihren Ausflügen nach Las Vegas mitbrachte, war – trotz Berühmtheit und weiten Entfernungen – eine treue Freundin. Es sei denn, man verscherzte es sich endgültig, wie Martin Walser, den sie 1946 in Regensburg vor ihrer Auswanderung kennen gelernt hatte und dem sie bis 2002 verbunden blieb, bis er seine Aversion gegen Marcel Reich-Ranicki in dem Roman »Tod eines Kritikers« auslebte.
2016 war die Holocaust-Überlebende zum 27. Januar, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, für die Hauptansprache in den Berliner Reichstag eingeladen. Angesichts ihrer eigenen Erfahrung ging ihre Verwunderung über die deutsche Flüchtlingspolitik mit der Öffnung der Grenzen in Bewunderung für die deutsche Bundeskanzlerin über. Selbst jene, die ihre Ansicht nicht teilten, waren von der ruhigen Autorität der ergrauten Zeitzeugin tief beeindruckt.
Nun sind für Ruth Klüger alle Kämpfe ausgestanden. Möge ihre Seele eingebunden sein in den Bund des ewigen Lebens.
Foto: Ellen Presser, Ruth Klüger im Kulturzentrum der IKG beim Signieren.
Ellen Presser