2020 hat sich unser Leben radikal geändert. Alles, was uns gut tut, macht krank. Gewissheiten, Lebensläufe, Existenzen sind bedroht. Wir müssen mit etwas umgehen, das wir nicht sehen können, das aber massiven Einfluss auf unseren Alltag hat. Wissenschaftliche Erkenntnisse ändern sich rascher als wir das Wort »Reproduktionszahl« buchstabieren können.
Kann, soll, muss man in so einem Jahr, Gedenkveranstaltungen durchführen? Oder ist die Gegenwart so drückend, die nahe Zukunft so unplanbar, dass die Vergangenheit erstmal hintenan stehen sollte?
Schnell wurde deutlich, dass die Arbeitsgruppe »Gedenken an den 9. November 1938« wie jedes Jahr zwei zentrale Gedenkveranstaltungen an die Pogromnacht 1938 durchführen wollte.
Wie kam es zu diesem Schwerpunkt?
Wie jedes Jahr wurde ein Schwerpunkt gewählt. Es mutet merkwürdig an, dass ausgerechnet in einem Jahr, in dem Gesundheit ein so zentrales Thema ist, die jüdischen Patienten in Heil- und Pflegeanstalten und Behinderteneinrichtungen im Fokus des Gedenkens standen. Menschen, die sich dort meist auf Einweisung des zuständigen Gesundheitsamts befanden.
Hier ist ein kaum bekanntes historisches Datum, der achtzigste Jahrestag einer Mordaktion Schuld. Kurz möchte ich die Geschichte schildern.
Nach der Pogromnacht 1938 radikalisierte sich die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung erheblich, was auch die jüdischen Patienten zu spüren bekamen. Sie waren doppelt gefährdet: als Juden und als Psychiatriepatienten. Da sie in den Anstalten nicht separiert werden konnten, entschloss sich das NS-Regime zum Mord.
Im Frühjahr 1940 wurden alle jüdischen Anstaltspatienten vom Reichsministerium des Innern in Zusammenarbeit mit der »Euthanasie«-Zentraldienststelle in der Berliner Tiergartenstraße 4 erfasst. In Bayern fungierte die östlich von München gelegene Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar (heute: Isar-Amper-Klinikum München-Ost) als zentrale Sammelanstalt. Am 20. September 1940 trieben Ärzte und Pflegepersonal 191 jüdische Frauen, Männer und Kinder zum anstaltseigenen Gleisanschluss, von wo sie mit dem Zug zur Tötungsanstalt Hartheim in Österreich deportiert und nach ihrer Ankunft mit Kohlenmonoxid ermordet wurden. Insgesamt wurden mehr als 2.500 jüdische Anstaltspatienten in den Tötungsanstalten der »Aktion T4« ermordet.
Die Opfer dieses ersten systematischen Massenmords an Juden vor Beginn der Deportationen in die Ghettos und Vernichtungslager haben erst spät in der Erinnerungskultur Beachtung gefunden. Auch deshalb war es ein Anliegen, die Gedenkveranstaltungen nicht ausfallen zu lassen. Sie wurden jedoch wie so vieles im Jahr 2020 in den virtuellen Raum verlegt.
Gedenken neu Denken
Anstatt der klassischen Lesung von Namen und Biographien haben wir – um Kontakte zu reduzieren – die Texte von Stefan Wilkening und Julia Cortis einlesen lassen. Es ist schmerzhaft, dass die Stadtgesellschaft sich nicht beteiligen konnte. Wir hätten es uns jedoch nicht verziehen, wenn sich jemand auf der Gedenkveranstaltung infiziert hätte und erkrankt wäre. Gesundheit ist ein fragiles Gut. Das erleben wir im Moment besonders intensiv.
Allerdings ermöglicht die Aufzeichnung nun eine Teilhabe auch weit über den 9. November 2020 und weit über München hinaus, denn sie kann im Internet abgerufen werden: https://www.gedenken9nov38.de/namenslesung-am-gedenkstein-der-ehemaligen-hauptsynagoge/
Auch die Veranstaltung, die im Alten Rathaus geplant war, wurde vorab aufgezeichnet: Erstmals sprachen aus dem »Gang der Erinnerung« die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Dr. Charlotte Knobloch und Oberbürgermeister Dieter Reiter ihre Grußworte. Im Hintergrund die Namen der 4.500 jüdischen Münchnerinnen und Münchner, die Opfer des NS-Regimes wurden. Unter ihnen auch die Patienten aus den Heil- und Pflegeanstalten.
In einem Aufnahmestudio wurden die Redebeiträge des Historikers Dr. Andreas Heusler, Stadtarchiv München, und des Psychiaters Prof. Dr. Michael von Cranach, Gedenkinitiative für die »Euthanasie«-Opfer, aufgenommen. Julia Cortis und Stefan Wilkening lasen aus historischen Dokumenten.
Den musikalischen Rahmen bildeten zwei Sätze der Sonatine für die »Euthanasie«-Opfer, die Philipp Ortmeier für ein Saxophon-Quartett komponiert hat. In der NS-Zeit galten moderne Instrumente als »entartet«. Ein Urteil, dem wir uns heute nicht mehr anschließen.
Bei einer Verlegung in den virtuellen Raum müssen Seh- und Internetgewohnheiten mitbedacht werden. Während der Musikeinspielung wollten wir die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht vor einer schwarzen Mattscheibe sitzen lassen. Daher haben wir die Musik mit historischen Fotos von Orten und Opfern unterlegt.
Vor der Ausstrahlung mussten die Aufnahmen geschnitten, Übergänge gefunden und ein Gesamtvideo erstellt werden. Auch das eine neue Erfahrung, diese Postproduktion. Der Gedenkakt kann hier abgerufen werden: https://www.gedenken9nov38.de/live/
Anders Gedenken in Zeiten der Pandemie
Gedenken in Zeiten der Pandemie ist anders. Es ist ärmer an Begegnungen, Gesprächen und gemeinsamen Erleben. Andererseits bietet es auch Chancen.
Ich bin Mitglied der Arbeitsgruppe »Psychiatrie und Fürsorge im Nationalsozialismus in München«, zu der auch Michael von Cranach, Annette Eberle und Gerrit Hohendorf gehören. Wir haben zwischen 2010 und 2017 im Auftrag des NS-Dokumentationszentrums die Namen und Lebensgeschichten der Münchner Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde für ein Gedenkbuch recherchiert. Begleitend dazu haben wir etliche Gedenkveranstaltungen organisiert, um das Gedenken an diese lang vergessene Opfergruppe in die Münchner Stadtgesellschaft zu tragen.
Immer, wenn ich Lebensgeschichten erzähle, werde ich gefragt: »Was hatte der oder die denn?« Gemeint ist die psychiatrische Diagnose. (Als würde die den Mord erklären …) Früher habe ich immer geantwortet, dass ich die Frage »Wer war der oder die denn?« für viel wichtiger halte.
Jetzt aber möchte ich einen Satz aus Michael von Cranachs Gedenkrede zitieren: Die Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde waren »Menschen mit einer besonderen Empfindlichkeit, deren Würde auch besonders schützenswert ist.«
Und das ist vielleicht etwas, in das wir uns 2020 besonders gut einfühlen können. Unser Alltag ist ganz plötzlich wegen einer Krankheit sehr anstrengend geworden, wir müssen ständig neu organisieren, spontan und flexibel sein. Dabei gibt es keine Sicherheiten mehr, weder materiell noch psychisch. Wir sind angewiesen auf medizinische Erkenntnisse. Wir müssen vertrauen, auch wenn wir die Fachleute nicht immer verstehen.
Wann wird unser Leben wieder normal?
Wir haben ein Jahr hinter uns, in dem alles, was uns Entspannung und Freude verspricht, kaum mehr geht: Begegnungen mit Familie, Freunden und Arbeitskollegen. Freizeitvergnügen wie Theater, Museen, Konzerte und Clubs. Tapetenwechsel wie Besuche, Ausflüge und Urlaubsreisen.
Wann wird unser Leben wieder normal? Wird es jemals wieder normal?
Wir wissen es nicht.
Zum Glück wissen viele von uns auch nicht, wie es sich anfühlt depressiv zu sein (und nicht nur ein bisschen traurig), paranoid zu sein (und nicht nur ein bisschen ängstlich), emotional-instabil zu sein (und nicht nur ein wenig schwankend), wie es ist im Rollstuhl zu sitzen, gehörlos oder blind zu sein und an vielem nicht teilhaben zu können, weil überall Hürden und Grenzen lauern.
Was wir jetzt aber vielleicht ein bisschen besser nachempfinden können, ist, wie es ist, wenn unsere Normalität durch eine Krankheit nicht mehr gilt. Wir völlig aus der Bahn geworfen werden. Wir uns orientierungslos in einer »neuen Normalität« einrichten müssen. Das gelingt uns manchmal besser, manchmal schlechter. Immer aber ist es anstrengend.
Ein ver-rücktes Leben
Vielleicht hilft uns diese Erfahrung, ein bisschen toleranter, ein bisschen offener, ein bisschen duldsamer gegenüber Menschen zu sein, die sich in einem »ver-rückten Leben« einrichten mussten und einem rassistisch-eugenischem Mordprogramm zum Opfer fielen.
Sibylle von Tiedemann
Foto: Marina Maisel