Ansprache von Ellen Presser zur Übergabe am Donnerstag, 27. Januar 2022 in der Haimhauser Str. 1 in München-Schwabing
Es gibt keine Zufälle, doch es gibt Fügungen. Wir Menschen machen Pläne, die oft von den Zeitläuften, den Umständen durchkreuzt werden. Heute, am Internationalen Holocaust-Gedenktag, soll des Ehepaars Wilmersdörfer gedacht, ein Erinnerungszeichen der Öffentlichkeit übergeben werden. So still und unauffällig sie gelebt haben, so still wird es auch heute bleiben. Denn von den vielen, die ihrer heute hörbar gedacht hätten, erzwingen die Corona-Umstände, dass nur mehr zwei sprechen dürfen.
Ich danke ferner Ihnen, sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Habenschaden, für Ihre Rede. Sie sprachen an, was zwei Menschen widerfuhr, die nicht fester hätten eingebunden sein können in bayerisch-jüdische Identitäten und Münchner Lebensgefühl: Entrechtung und Ausgrenzung, Demütigung und Beraubung, mit einem kurzen Lichtblick, dem Inferno doch noch zu entkommen. Nur erwies sich die Flucht ausgerechnet an Bord der St. Louis als Rundreise, weg vom rettenden Ufer New York zurück nach Europa, als Fahrt in den sicheren Tod.
In Goethes »Faust« heißt es: »Name ist Schall und Rauch«. Wenden wir das mal an auf Siegfried und Flora Wilmersdörfer an. Sein Vorname setzt sich zusammen aus den Silben »sigu«, im Altdeutschen für Sieg und »fridu« für Friede, Schutz, Sicherheit. Siegfried konnte seiner Flora, im Lateinischen das Sinnbild für eine Blume, diesen Schutz nicht bieten. Sein Herz packte die Schrecken nicht mehr, die nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien, wo die Eheleute gestrandet waren, über die beiden hereinbrachen. Die letzte »Reise« Ende Juli 1943 nach Auschwitz, wo tatsächlich alles in Rauch aufging, musste die Witwe alleine antreten.
»Den Schmerz und das Leid [der Opfer] können wir nicht einmal erahnen.« Das haben Sie, sehr geehrte Frau Habenschaden, sehr zutreffend benannt. Doch wir können versprechen, nicht zu vergessen und zu denken. Eine Frau, die ich schon lange kenne und schätze, hat ihr Versprechen gehalten, Frau Edith Römer, die für ihre Angehörigen ein Gedenkzeichen an dieser Stelle initiiert und heute begleitet von ihrem Enkel Nils dabei ist.
Was hat das aber mit uns zu tun, fragen manche, die nur das Hier und Jetzt interessiert. Die gebürtige Münchnerin Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, kennt diese kritikwürdige Einstellung. Im November 2021 sagte sie bei der Enthüllung der Stele für ein anderes Ehepaar, nämlich Kitty und Rupprecht Neustätter: »Manche würden all das Vergangene als Teil der Geschichte sehen; als abgeschlossenes Kapitel, dem keine besondere Aufmerksamkeit mehr gebührt.« Und sie warnte davor, dass die Zeit tatsächlich denen zuarbeitet, die dem Vergessen das Wort reden. Wie kann man gegensteuern? Charlotte Knobloch nennt als probates Mittel: »Es erfordert aktives Engagement von unserer Seite, damit die Menschen sich an das erinnern, was nicht in Vergessenheit geraten darf.«
Mit Erinnerungszeichen an Stelen und Hauswänden bekommen Opfer, die in der Zeit der Verfolgung zu Tode kamen – ob aus so genannten rassischen oder eugenischen Gründen – ihre Namen und Gesichter zurück. Dieses Gedenkkonzept begrüßt die Israelitische Kultusgemeinde ausdrücklich. Und es wird durch die Freischaltung einer WebApp zum heutigen Tage zu einem zeitgemäßen Begleiter für technisch-affine historisch interessierte Menschen in München, die ihre Stadt erkunden wollen und sich für die dunklen Seiten hinter den schön renovierten Fassaden interessieren.
Wenn ein jüdischer Mensch stirbt, werden zur Beerdigung Psalmen verlesen, die sich an der Buchstabenfolge des hebräischen Vornamens orientieren. Ich kenne die jüdischen Vornamen von Flora und Siegfried Wilmersdörfer nicht. Darum habe ich nach den Psalmen gesucht, die mit der Nummer ihrer Erinnerungszeichen, 115 und 116 entsprechen. Und ich bin – getreu der Überzeugung, dass es keine Zufälle gibt – fündig geworden und zitiere zum Abschluss aus dem Palm 116 (3 bis 7):
»Mich umfingen des Todes Bande, und Angst der Hölle traf mich, Not und Kummer fand ich.
So ruf‘ ich an den Namen des Ewigen: ach Ewiger, rette meine Seele!
Gnädig ist der ewige und gerecht, und unser Gott ein Erbarmer.
Es hütet die Einfältigen der Ewige, elend war ich und Er half mir aus.
Kehre zurück, meine Seele, in deine Ruhe; denn der Ewige hat dir wohlgetan.«
Ellen Presser